Blumengeschichte I

Die Seerose

 

Es wurde Abend, als die Töne kamen: Melodien aus Sternenstaub und Luft – keine Musik für Ohren.

Sie drangen durch die Rinde der Bäume, glitten durch Gras und Korn, schmiegten sich ins Schilf und strömten über das stille Wasser. Durch den Nachtklang schien alles miteinander verbunden.

Das war der Augenblick, als die Seerose zu sprechen begann. Die feine Stimme entflog dem halbgeschlossenen Kelch. Erst ruhte sie auf den dunklen Kreisen der Blätter, dann schwang sie sich leicht federnd hinauf. Sie mischte sich in die Akkorde der Nacht und näherte sich dem Land.

“Nie war ich so nah am Ufer!”

Es rauschte im Gras.

“Morgen werde ich wieder weit draußen sein.”

In weichen Boden getupft ein paar zögernde Tritte.

”Du fürchtest dich? Oder schämst du dich vor dem klaren Wasser? Das Schilf ist blind, die Schwerter der Wasserlilien schlafen. Die Vögel träumen. Die Fische lauschen der Nacht.”

Am Wasserspiegel zersprang eine Perlenreihe lebendiger Blasen.

“Geh nicht fort! Geh doch nicht fort!”

Kaum hörbares Scharren, Schleifen und Fallen.

“Dein Leib zittert, das kommt vom mondkühlen Licht.”

Es liefen Ringe über die Ebene des Wassers, ganz sacht wiegten sie drüben den Teppich der Blätter.

“Was zögerst du? Hörst du denn nicht das Klingen? Es ist für dich!”

Und es kam viel Silber auf die Fläche. Durch die dunklen, weichen, moosgrünen Töne glitzerten Stimmen aus Glas. Weißes, Gelbes, Rotes flog mit, ging hoch über die Wolken und tief in den Grund des Gewässers. Die Fische aber, die oben still im Wasser standen, hatten dergleichen noch nie gehört.