Das politische Kartoffellied

Doch Wissenschaft ist dynamisch, sie schreitet fort. Es ist mir eine Genugtuung, diesen Fortschritt heute Abend dokumentieren zu können, indem wir die Gegenstände „Politisches Lied“ und „Kartoffellied“ in einer Symbiose zu einer eigenständigen neuen Liedgattung zusammenfügen: Es gibt es wirklich im europäischen Raum, das politische Kartoffellied. Anhand einiger Beispiele aus verschiedenen Ländern soll diese Liedgattung nun vorgestellt werden.

Im Gemeindearchiv von Saint-Chanson an der Lûte in Ostfrankreich wird ein Lied aufbewahrt, das ohne Zweifel aus dem 18. Jahrhundert stammt und den revolutionären Geist der Kartoffel offenbart. Die Anklänge an die französische Nationalhymne sind unüberhörbar. Es wird eine Aufgabe weiterer Forschung sein herauszufinden, ob sich der Dichter der französischen Hymne, Rouget de Lisle, im April 1792 in Straßburg nicht hat inspirieren lassen von jenem außergewöhnlichen politischen Kartoffellied, das er bei Ausflügen in die Umgebung möglicherweise von Einheimischen gehört hat.

Pommes à la Marseillaise
 
Allons enfants zum braunen Acker
schwingt euren Karst und hackt recht wacker.
Was wir uns aus der Erde holen,
wird uns von keinem Pfaff gestohlen
und auch kein stolzer Edelmann
kommt an die Pommes-de-terre heran.
 
Auf Volkes Tisch erscheint jetzt schnelle
das Beste der Cuisine nouvelle:
wie Pommes dauphin, Gratin mit Käse
und Stampfkartoffeln nach Louis XVI.
Ob Sansculotte, ob Bauersmann,
jetzt ist der Bürgermagen dran.
 
Den Pommes-de-terre ist das zu danken,
die Grande Nation kann nie mehr wanken!
Wenn diese Frucht in toute la France
die Republik versetzt in Trance,
dann herrscht im Land Fraternité.
Enfants, zum Acker, marsch, allez!

In der Schweiz, in einem verborgenen Hochtal des Kantons Uri singt man im Anschluss an den Almabtrieb folgendes Lied:

Eidgenössischer Apfelschuss
 
Grüezi, in der Erde Grund!
Grüezi, was dem Schweizer mundet.
Gleich ob länglich oder rund,
Achtung wird ihr stets bekundet.
 
Eidgenossen Bund beschloss,
was auf Rütlis Alm beschworen.
Erdapfel traf Tells Geschoss
und ward zum Symbol erkoren.
 
Aus der Erde, nicht vom Baum
kam die Frucht, die uns verbunden.
Grüezi, Eidgenossentraum
wird in Heimaterd` gefunden.

Wenn dieses Kartoffellied, das an der Wiege der Schweizer Eidgenossenschaft überliefert wird, einen historischen Wahrheitskern enthält, hat dies Konsequenzen für den Mythos von Tells Apfelschuss und damit für die Inszenierung des Schiller`schen Schauspiels; Konsequenzen aber auch für die Geschichte der Kartoffel. Wenn Gessler Tells Sohn eine Kartoffel als Zielscheibe aufs Haupt gelegt hat, müsste sie also schon im 13. Jahrhundert – zumindest regional – in Europa bekannt gewesen sein. Ich verweise in diesem Zusammenhang auf einen Beitrag „Kartoffellust unterm Pinsel“, in dem eine Miniatur aus einer Handschrift des 14. Jahrhunderts abgebildet ist, die unzweifelhaft eine Kartoffel erkennen lässt. Sollten es am Ende schon die Wikinger gewesen sein, die die edle Knolle aus der neuen Welt mitgebracht und einige davon bei ihren Raubzügen rheinaufwärts verloren haben?

Damit sind wir räumlich nicht weit vom Ursprungsland des nächsten Kartoffelliedes entfernt, dem der politische Hintergrund nicht abzusprechen ist. Seit Jahren berichten die Medien immer wieder von Schwierigkeiten bei einer Regierungsbildung in Belgien; nicht selten hören wir von separatistischen Bestrebungen der flämischen Volksgruppe. Wie wir aus dem folgenden Lied erfahren, verdankt es dieser kleine, im 19. Jahrhundert künstlich geschaffene Staat der Kartoffel, dass er längst nicht schon wieder zerbrochen ist.

Belgischer Kitt
 
Es nannte Cäsar Belgium,
was untertan war mancher Kron.
Dann schlug man eine Grenz herum
und schuf `nen eig`nen Königsthron.
Refr.:
    Was die Nation zusammenhält,
    ist nicht der König, nicht das Geld,
    nicht Brüssel in der Mitten,
    es sind die fetten Fritten.
 
Im Norden bis zum flachen Strand
die Flamen sammeln Geld und Gut.
Im Süden, im Ardennerland
fließt der Wallonen kühles Blut.
Refr.: Was die Nation…
 
Die beiden sind sich oft nicht grün,
sie hätten fast sich schon getrennt.
Regieren macht dann viele Müh`n,
es kriselt oft im Parlament.
Refr.: Was die Nation…

Ob nicht vielleicht auch der Europäischen Union ein solcher nahrhafter kulinarischer Kitt von Nutzen sein könnte?

Im Folgenden, eindeutig politisch motivierten Kartoffellied spiegelt sich eine vergangene Epoche der russischen Geschichte. Der auftaktige Viererrhythmus erinnert an marschierende Kolonnen, an ein Volk auf dem Weg zu großen Zielen; dabei ist bemerkenswert, wie die Kartoffel die Strapazen dieses Wegs mildern und vergessen lassen soll.

Russisches Wasser
 
Wir sind auf den Acker gezogen,
zu kämpfen die ruhmreiche Schlacht.
Im Schwung sind die Hacken geflogen
vom Morgen bis tief in die Nacht.
 
Wir sind die Kartoffelbrigaden
in Mütterchen Russlandes Sold,
zum Kampf auf den Acker geladen,
wir graben nach erdbraunem Gold.
 
Genossen entzündet die Flammen!
Aus Gold wird nun Wasser gebrannt,
das eint uns und schmiedet zusammen,
verklärt uns den Blick auf das Land.
 
Wir legen kein Geld an für Zinsen,
erinnern uns Lenin`schem Rat:
Der Mammon geht doch in die Binsen.
Wir legen in Erde die Saat.
 
Wir wollen der Scholle vertrauen,
sie sorgt, dass bald alles recht sprießt,
lässt künftiges Glück uns erschauen
wenn russisches Wasser reich fließt.

Vor ziemlich genau 250 Jahren ist, wie könnte es anders sein, auch in Preußen ein Kartoffellied entstanden. Die ersten  Zeilen und die Melodie lassen uns sofort eine Beziehung zwischen Volksmusik und Kunstmusik entdecken und hinter das Geheimnis blicken, wo Franz Lehar seine Inspiration gesucht hat. Das Lied ist auch deshalb bemerkenswert, weil es die Legende vom Alten Fritz, der seine Kartoffeln bewachen ließ, um diese für das einfache Volk interessanter zu machen, einen höheren Realitätsgrad verleiht. Das Lied lautet folgendermaßen:

Die königliche List
 
Es steht ein Soldat am Ackersrand,
hält Wache in des Königs Land,
und keiner merkt des Königs List
am Acker mit dem Leibgardist.
 
Sag Nachbar, was jener Mann bewacht?
Was soll er schützen Tag und Nacht?
Es ist nicht Gold nicht Edelstein,
es soll des Königs Leibspeis sein.
 
Es steht kein Soldat am Ackersrand,
beim Abendrot die Wach` verschwand.
Kaum leucht` am Himmel Mond und Stern,
da regt sich`s leise nah und fern.
 
Man scharrt aus dem Boden Knoll um Knoll
und mancher macht sein Säcklein voll.
In dunkler Nacht trägt er`s nach Haus
und leert`s in seinem Garten aus.
 
Er gräbt all die Knollen in die Erd,
kein Grenadier hat es gewehrt.
Und in der gleichen dunklen Nacht
in Sanssouci der König lacht.
 
Fünf Monat später macht dann die Knoll`
in Preußen manchen Magen voll.
Und fehlt`s einmal an Korn und Schrot,
sie lindert gröbste Hungersnot.
 
Ein Herrscher verdient sich Ruhm und Ehr
durch solche Tat; sie zählt viel mehr
als Säbelhieb und Pulverblitz.
Es lebe hoch der Alte Fritz.

Kürzlich fand sich ein weiteres Kartoffellied in Thüringen, das über den politischen Charakter hinaus einen philosophischen Akzent besitzt. Der lokale Bezug wird deutlich durch das im Lied genannte „Schlundhaus“, ein berühmtes altes Gasthaus in Meinigen. Auch dass der Kartoffelkloß thematisiert wird, dessen Erfindung die Meininger für sich beanspruchen, bekräftigt den lokalen Bezug.

Kartoffel und Kloß
 
In froher Runde traf man sich,
im Schlundhaus solls gewesen sein.
Viel Worte flogen übern Tisch,
man schenkt sich auch recht zünftig ein.

Man zollte der Kartoffel Lob,
der Franke pries Geschmack, Gehalt,
den Hochgenuss, ob fein ob grob,
die große Vielfalt der Gestalt.

Mit klugem Wort der Pfälzer spricht:
„Da dick, dort dünn, mal glatt, mal krumm,
die Grumbier ist ein Leibgericht,
zugleich Symbol fürs Menschentum.“

Der Thüringer wiegt mit dem Kopf:
„Ihr preist mir sehr Verschiedenheit,
wie sie sich präsentiert im Topf.
Wir denken an die andre Seit.

Gerechtigkeit liegt uns im Sinn,
und Ebenmaß wird zum Fanal,
wir streben nach Vollendung hin,
die Kugel ist das Ideal.

Naturform ist zuweilen gut,
wie sie entspringt der Erde Schoß;
doch wir beweisen wahren Mut,
den Mut zum kugelrunden Kloß.

Kartoffel rein wirkt wie verwaist,
den Kloß man nun dagegen hält.
Dort die Natur und hier der Geist –
auf diese Weise stimmt die Welt.

Es ist erstaunlich, welche politische Potenz der Kartoffel im Lied zugeschrieben wurde, und es wird deutlich, dass die Kulturgeschichte und die Musikwissenschaft diesem Zweig der Liedforschung die Aufmerksamkeit nicht versagen darf.