Der Kartoffelkönig in der Zeitmaschine

literarisch – potatonischer Bericht über eine abenteuerliche Reise

Es war um die letzte Jahrtausendwende, als in Unterfranken die Leser des Mainecho von der neuen Monarchie erfuhren: In Lohr hatte der Kartoffelkönig Eduard I. Förderer und Liebhaber der Kartoffel zu einem potatonischen Reichstag einberufen, um bei dieser Gelegenheit auch einen funktionstüchtigen Hofstaat zu gründen. Ohne Hofmarschall, Kellermeister, Kartoffelgeneral, Kartoffelprofessor und andere wichtige Amtsträger wäre auch ein bescheidenes Kartoffelreich nicht angemessen zu regieren gewesen. Die meisten Leser des Mainecho, die Vertreter der Kirchen, der Politik und der Medien beurteilten die Sache mit Wohlwollen, denn wenn man den Freunden des Weines eine Weinkönigin gönnt, warum sollten die Liebhaber der Erdknolle nicht einem Kartoffelkönig huldigen; dass man sich gegenseitig die Herrschaft streitig machen würde oder kriegerischen Landraub beginge, war nicht zu erwarten.

In der Folge hatte die Presse immer wieder Neues zu berichten, beispielsweise über diplomatische Beziehungen zum Klosreich Thüringen, über Verleihungen der Kartoffelmedaille oder über eine Delegation nach Potsdam mit Niederlegung einer Kartoffel auf dem Grab Friedrichs des Großen. Der König hätte glücklich und zufrieden seines Amtes walten und seine tägliche Kartoffel verzehren können, hätte ihn nicht ab und zu ein kleiner Stachel gereizt: Schon bald war ihm zugetragen worden, man munkele, seine Herrschaft sei weder dynastisch durch Erbschaft noch durch eine Kurfürstenwahl begründet. Dieser Zweifel an seiner Legitimität bereitete Eduard I. manchmal Kopfschmerzen. Aber diese sollten ihm auf bemerkenswerte Weise genommen werden.

Eines Tages stieß der Kartoffelkönig beim Googlen auf das Neugier weckende Angebot einer Zeitmaschine, die man gegen eine angemessene Gebühr zur Nutzung ausleihen kann. Als Mann von klaren Entscheidungen und schnellen Entschlüssen war bald ein Gerät bestellt. Nach wenigen Tagen traf eine große Kiste im Haus „Zum Sommerhof“ ein. Was herauskam, glich einer Art Beichtstuhl aus Edelstahl, was nicht gerade vertrauenerweckend auf den Empfänger wirkte. Im Inneren befand sich eine bequeme Bank, auf ihr sitzend hatte man eine Funktionswand mit Display und Schaltknöpfen vor sich. Der bekannte Spieltrieb des Kartoffelkönigs ließ ihn auf einen grünen Knopf drücken, warmes gedämpftes Licht entgrenzte den engen Raum und eine sympathische weibliche Stimme war zu hören: „Ich, Clio, die Muse der Geschichte, begrüße dich und wünsche dir eine angenehme Reise in die Vergangenheit. Durch leichtes Berühren der Wahlfelder auf dem Bildschirm kannst du Zeit einstellen, Orte wählen, Begegnungen mit Persönlichkeiten der Vergangenheit bestimmen – es ist alles bereit.“ Eduard I. war fasziniert. Bei den Jahreszahlen, die erschienen, berührte er 1800, dann zeigte sich eine Auswahl unter Philosophen, Malern und anderen Berühmtheiten. Er wählte Dichter, jedoch keine einzelne Namen, sondern die Anzahl fünf und das Feld „Zufallswahl“. Nun berührte er „Start“ und hörte sogleich eine andere Frauenstimme: „Es grüßt Erato, die Muse der Poesie; ich freue mich, dich auf deiner poetischen Reise begleiten zu dürfen. Wir beginnen im Jahre 1800 und gelangen in Schritten an das Ende der Zeitreise im 20. Jahrhundert. Schließe jetzt, bitte, für etwa drei Sekunden die Augen.“ Als Eduard I. die Augen wieder öffnete, fand er sich vor einem blühenden Busch in einer parkartigen Landschaft. Er hörte wieder Eratos Stimme: Du bist jetzt in Weimar, vor der Stadt, im Tal der Ilm. Das hübsche Haus dort drüben ist Goethes Gartenhaus, gehe hin, du wirst den Meister treffen.“ Fast magische   Kräfte führten den Kartoffelkönig den Hang hinauf zu Goethes Garten. Er schaute über das Gartentor und sah einen Mann am Gartentisch sitzen, in der Rechten eine Gänsefeder, vor sich ein Blatt Papier. Es konnte nur Goethe sein, die Person glich den Bildern, die man von dem Dichter kannte. Der blickte auf, sah Eduard, erhob sich und kam zur Gartentür. „Unerwarteter und unbekannter Besuch, treten sie ein, sie kommen gerade recht, ich benötige Ablenkung.“ Der Gast entschuldigte sein unangemeldetes Erscheinen und berichtete über seine Herkunft; dabei entschlüpfte ihm auch die Bezeichnung „Kartoffelkönig“. Goethe nickte, dann straffte er sich, rief: „Das ist es!“ Und erklärte in schnellen Sätzen, dass er dabei sei, den Urfaust zu einem erweiterten Drama umzuformen, aber ins Stocken geraten sei und fuhr fort: „Mephistopheles hatte Faust eine Schmuckkassette gegeben, die dieser in Margaretes Zimmer zurückgelassen hat, um das Mädchen für sich zu gewinnen. Die hat das Geschenk ihrer Mutter gezeigt, diese wiederum dem Pfarrer; der hat sie als Teufelsgut bezeichnet und für die Kirche an sich genommen. Um diesen fehlgeschlagenen Versuch wett zu machen, beraten Faust und Mephisto ein neues Projekt; aber dazu fehlte mir die Inspiration. Jetzt, als ich „Kartoffelkönig“ hörte, dämmert es mir. Ich entschuldige mich, schauen sie sich den Garten an, bald werde ich sie wieder treffen.“ Damit ging er zurück zum Tisch. König Eduard nickte und spazierte durch den Garten. Nach einiger Zeit kam Goethe lachend und den Papierbogen schwenkend auf ihn zu: „Es scheint geglückt, höre er selbst“ und begann zu deklamieren:

Meph.

Bei aller verschmähten Lieb! Beim höllischen Element!
ich wollt ich wüsst was ärgers, dass ich fluchen könnt.
Denkt nur, den Schmuck, den ich Margareten schafft,
den hat ein Pfaff hinweggerafft.
Der schöne Plan sie zu gewinnen,
ist damit aus und ganz von hinnen.

Faust

Kannst du ein neu Geschmeid beschaffen?
Ohn‘ Zugriff dieses Mal des Pfaffen?

Meph.

Ein wahrer Teufel hat bedacht,
dass Fehler man nicht zweimal macht:
wir wollen mit ganz andern Stücken
das Kind, und damit dich, beglücken.
Wie ich gewahr geworden bin,
hat es viel haushaltlichen Sinn,
der sei für diesmal Einfallstor.
Ein Pfaff kommt uns da nicht zuvor.
Nur musst du, unbemerkt von Pfaffen,
ein paar Pfund Erdäpfel beschaffen.

Faust

Das ist ein Scherz; in unserm Kreise
sind die jetzt Armeleutespeise
und, Mephistopheles bedenk,
gewiss kein gutes Werbgeschenk.

Meph.

Der Mensch, das ist unzweifelhaft,
bei allem sich Bedenken schafft.
Ein Teufel schöpfet aus dem Vollen,
macht Erdäpfel zu Liebesknollen.
Ein Zauberwort, ein Fingerstreifen
lässt Liebesmagie darin reifen.
Es ist, wenn Margarete sie berührt,
als hätte Faust das Mädchen selbst verführt.
 
Kartoffelzauber allerwegen
sind viele Frauen schon erlegen
und Wirkung zeigen auch beim Manne
die Bratkartoffeln in der Pfanne.
Hier könnte man das Sprichwort sagen,
die Liebe ginge durch den Magen.

Faust

Den Zweifel hast du mir gebeugt,
mich von dem Plane überzeugt,
Kartoffeln soll`n, um Teufels willen,
mir meinen Liebeshunger stillen.

Eduard I. fühlte sich recht stolz, dass ein König einem Dichterfürsten zur Inspiration verhelfen konnte. Man plauderte noch ein wenig, man verabschiedete sich. Als Goethe die Gartentür hinter dem Gast schloss, vernahm der Eratos Stimme: „Setze dich auf den dicken Stein, neben dem du stehst und schließe kurz die Augen.“ Er folgte. Als er die Augen wieder öffnete, stand er vor einer blaugrün angestrichenen Tür, anscheinend im Obergeschoss eines alten Hauses. Da kam auch schon die Stimme: „München im Jahre 1860. Lese das Türschild, dann weiß du, wo du bist. Du wirst willkommen sein.“ Von verschnörkeltem Liniendekor gerahmt stand da in schöner Handschrift „Wilhelm Busch“, daneben baumelte der Klingelzug. Der Kartoffelkönig zog daran, drinnen bimmelte ein helles Glöckchen, es näherten sich Schritte, die Tür wurde geöffnet von einem Mann von etwa dreißig Jahren. „Wer sie auch sind, ich grüße sie und heiße sie willkommen, treten sie ein, zu zweit getrunken hat jedes Glas Wein eine doppelte Wirkung!“ Der überraschte Kartoffelkönig folgte seinem Gastgeber in einen Raum, der ihm wie eine Mischung aus Schlafzimmer, Wohnzimmer und Atelier vorkam. Busch bot ihm einen Stuhl an einem großen Tisch, der mit weißem Papier und Zeichnungen bedeckt war. Nachdem er sich vorgestellt hatte, erklärte ihm Busch sein Verhalten. Er habe ein neues Manuskript mit Versen und Bildern einem Verleger geschickt; der habe es zu lang gefunden und heute zurückgesendet. Aus dem Kapitel mit Lehrer Lämpel solle er einen Streich herausnehmen. Busch beugte sich über den Tisch, blätterte in einem Papierstapel, zog ein Blatt heraus und hielt es dem Gast hin. „Hier, lesen sie, ein Kartoffelkönig denkt sicher anders darüber als ein Nudeln essender Verleger.“ Eduard I. nahm das Blatt und las.

Max und Moritz  –  Neuer Streich
 
Tage sind ins Land gezogen,
Pulverdämpfe sind verflogen,
Lehrer Lämpel, angekohlet,
hat inzwischen sich erholet.
 
Max und Moritz, unverdrossen,
denken schon an neue Possen,
die sie, ziemlich ungezogen,
spielen ihrem Pädagogen.
 
Dieser pflegt in Frühjahrszeiten
seinen Garten zu bereiten,
sich mit diesem zu befassen,
wenn die Schüler sind entlassen.
 
Dort am Zaun hängt seine Jacke,
Lehrer Lämpel schwingt die Hacke,
denn es gilt vor allen Dingen,
die Kartoffeln auszubringen.
 
Schön in Reihen hackt er Gruben.
Hinterm Busch sehn das zwei Buben.
Hier Kartoffeln schön verteilen,
dort hinweg die Buben eilen.
 
Löcher zu mit seinem Rechen –
und da kommen schon die Frechen,
um sich hinter Lehrers Garten
zu verbergen und zu warten.
 
Lehrer Lämpel, recht zufrieden,
ist dann bald von hier geschieden,
um im nahen Kirchlein  drüben
Orgelstücke einzuüben.
 
Kaum hört man die Töne klingen,
sieht man Max und Moritz springen,
auch, dass selbige Gestalten
zwischen sich ein Säcklein halten.
 
An Kartoffelbeetes Rande
lösen sie des Säckleins Bande,
schütten daraus gar nicht kleine
bucklig-runde Kieselsteine.
 
Bald sind die Kartoffeln oben,
aus dem Pflanzloch ausgehoben
und dafür mit großer Schnelle
Kieselsteine an der Stelle.
Und wer würde jetzt noch fragen,
was die beiden fort bald tragen.
 
Drei, vier Wochen schnell vergehen.
Lämpel will nun täglich sehen,
leicht gebückt mit Kopfes Neigen,
ob sich die Kartoffeln zeigen.
 
Dann denkt er, schon leicht erschrocken:
„Ist der Grund vielleicht zu trocken?
Muss ich mich denn wieder plagen
und in Kannen Wasser tragen.“
 
Lämpels Mühe, Lämpels Warten
lohnt ihm diesmal nicht der Garten,
endlich ist er gut beraten,
diese Ecke umzuspaten.
 
Runde Knollen sieht er keine,
dafür viele Kieselsteine. –
Die Kartoffeln, leicht zu raten,
hat im Feuer man gebraten.
Max und Moritz, hinter Hecken,
ließen sie sich köstlich schmecken.
 
Dieses war ein Sonderstreich
für Edi im Kartoffelreich.

Das Letzte stand nicht auf dem Papier, es war dem Kartoffelkönig spontan eingefallen. Als er lachend das Blatt zurückgeben wollte, wehrte Busch ab und hob sein Weinglas. „Das können sie behalten, doch auf die Geschichte wollen wir anstoßen.“ So kam es, dass man diesen Streich in allen Busch-Ausgaben vergeblich sucht.  

Es mag am Wein gelegen haben, der Kartoffelkönig empfand beim Rückweg auf der Treppe ein Gefühl von weichen Knien  und setzte sich, ohne lange zu überlegen, auf die unterste Stufe. Um abzuschalten, schloss er kurz die Augen. Als er sie wieder öffnet, sitzt er nicht mehr im Treppenhaus eines Münchener Mietshauses, sondern in einem Korbsessel an einem runden Tisch. Große Fenster und einige Pflanzen in Töpfen und Kübeln bekunden den Wintergarten einer bürgerlichen Wohnung. Da tönt auch schon die Stimme der Muse: „Du bist jetzt in Berlin im Jahre 1905. Der Journalist und Autor Christian Morgenstern befindet sich noch in seinem Arbeitszimmer, wird aber bald erscheinen.“ Man hörte durch die offene Schiebetür Schritte im Haus. Eduard I. erhob sich, als ein Mann in mittlerem Alter eintrat und nach einem kurzen Gruß fortfuhr: “Sie müssen der Kartoffelkönig sein, der sich für meine Galgenlieder interessiert; ich fand eine Karte auf dem Schreibtisch mit ihrer Anmeldung, mit „Eduard I., Kartoffelkönig“ unterschrieben. Das hat mir gefallen und mich sogleich inspiriert. Hören sie!“ Er griff in die Innentasche seiner Jacke, zog ein Blatt heraus, faltete es auf und begann zu lesen:

Der Lattenzaun
 
Es war einmal ein Lattenzaun
mit Zwischenraum hindurchzuschaun.
 
Ein Architekt, der dieses sah,
stand eines Abends plötzlich da.
 
Er blickt sogleich ganz scharf hindurch
und sah ganz deutlich, Furch um Furch,
 
das kräftige Kartoffelkraut,
das Bauer Knopp dort angebaut.
 
„Potz Blitz“, denkt jetzt der Architekt,
„dies Kraut in mir Ideen weckt:
 
Bei jedem neuen Häuserplan
kommt es entscheidend darauf an,
 
wo man Kartoffeln lagern soll.“
Er findet den Gedanken toll
 
und malt in jeden Plan jetzt keck
im Keller ein Kartoffeleck.
 
Was sagt uns dies, was ist die Lehr?
Kommt irgendwo ein Zaun daher,
 
ein richtig echter Lattenzaun
mit Zwischenraum hindurchzuschaun,
 
dahinter ein Kartoffelfeld,
das gut gedüngt und recht bestellt,
 
dann bücke dich sogleich und schau:
Vielleicht wirst du dann endlich schlau.

Es folgte noch ein angeregtes Gespräch über Sinn und Unsinn, bei dem der Kartoffelkönig eine sich steigernde Müdigkeit verspürte und ihm plötzlich in seinem Korbsessel die Augen zufielen. Als er sie öffnete, um sich leicht verstört bei Morgenstern zu entschuldigen, musste er feststellen, dass er sich nicht mehr in einem Berliner Wintergarten, sondern auf einer Bank in einem Park befand. Zwischen zwei

Baumkronen hindurch sah er die Felswände eines hohen Bergmassivs. Die bekannte sympathische Stimme erklang: „Im Jahre 1921 bist du nun im Städtchen Siders im Wallis; das Rauschen, das du von ferne hörst, kommt von der Rhone. Der Herr, der sich rechts auf dem Parkweg nähert, ist Rainer Maria Rilke. Gute Unterhaltung.“ Rilkes Gang wirkte müde. Einige Schritte vor der Bank, schwenkte er von der Mitte des Weges auf diese zu und redete den dort Sitzenden mit leiser Stimme an: „Guten Tag, gestatten sie, dass ich kurz hier Platz nehme?“ Eduard I. grüßte zurück, rückte ein wenig zur Seite. Während der Mann Platz nahm, erklärte er: „Rilke ist mein Name, ich war lange unterwegs und bin müde geworden.“ Als Eduard I. sich auch vorstellte und „Kartoffelkönig“ anfügte, schien Rilke zu erstarren, dann, wieder mit leiser Stimme: „Heute scheinen mich Kartoffeln zu verfolgen – Kartoffelkönig, so ein Zufall!“ Dann erzählte er, dass er an diesem schönen Herbstnachmittag beim Wandern ständig um Ideen zu einem Herbstgedicht gerungen habe. „Auf einem Baumstumpf sitzend, sah ich nicht weit vor mir einen Acker mit zahlreichen Menschen bei der Kartoffelernte. Und nun flossen mir die Einfälle nur so zu. Bald war das Gedicht „Herbsttag“ fertig. Als ich es später, bei einer zweiten Rast wieder las, fand ich es nicht gelungen – zu erdig, zu realitätsnah, mit zu wenig Symbolkraft.“ Er erhob sich, wünschte noch einen schönen Tag und setzte seinen Weg fort. Eduard I. war tief beeindruckt von der Begegnung und schaute Rilke nach, der in der Ferne verschwand. Beim Aufstehen bemerkte der Kartoffelkönig am Boden vor Rilkes Platz ein zusammengeknülltes Papier. Er hob es auf, glättete es und erkannte die Zeilen eines Gedichts mit einigen Streichungen und Korrekturen, aber gut zu lesen. Er setzte sich wieder und las:

Herbsttag
 
Herr: es ist Zeit, der Sommer war recht heiß,
leg deine Schatten auf die Sonnenuhren
und meinen Rücken, spare mir den Schweiß.
Befiehl mit Nachdruck den Kartoffelreih`n,
dass sie in zwei noch südlicheren Tagen
viel Stärke fassen, große Fülle wagen,
dass keine Knolle bleibt am End` zu klein.
Wer keinen Karst hat, hat`s jetzt wirklich schwer,
wer jetzt allein ist, muss sich ewig bücken,
holt sich beim Ernten einen krummen Rücken,
schleppt Körbe voll Kartoffeln hin und her –
und findet kaum am Herbsttag viel Entzücken.

Das wieder gefaltete Blatt mit dem Herbstgedicht steckte der Kartoffelkönig in die Jackentasche, lehnte sich zurück und begann nachzudenken; dabei schloss er die Augen. Beim Öffnen hatte er Eratos Stimme im Ohr: „Willkommen in München, genauer in Nymphenburg, wir befinden uns im Garten von Eugen Roth. Der freut sich auf ein Gespräch mit ihnen, denn er ist auf der Suche nach Menschen, die ihm Anregung bieten für seinen Gedichtband „Ein Mensch“, der 1935 erscheinen soll.“ Als Roth an den Gartentisch getreten war, an dem der Zeitreisende saß, hatte sich nach kurzer Begrüßung bald ein lebhaftes Gespräch entwickelt. Für den verbindlichen

Gastgeber war es nicht schwer, auch Einzelheiten über das kartoffelkönigliche Anliegen zu erfahren; nach dem Abschied finden wir den produktiven Dichter an seinem Schreibtisch und Erato, die Muse der Dichtkunst, steht hinter ihm. König Eduard I. öffnet wieder einmal die Augen, diesmal in der Zeitmachine, und er sieht auf dem Display folgendes Gedicht:

Königswahl
 
Ein Mensch, nicht mehr ganz jung an Jahren
und mit bescheid`nem Schmuck von Haaren,
doch ausgerüstet mit Verstand,
bewegt sich gerne übers Land.
 
Er geht durch Wald und Wiesen wacker
und rastet am Kartoffelacker,
wo er den Lebenslauf bedenkt,
den Blick auch in die Zukunft lenkt.
 
Was will erwarten ich vom Leben?
Nach welchen Zielen soll ich streben?
Säh` ich mich gerne als ein Held?
Vermehre ich mein bisschen Geld?
 
Soll ich mir einen Namen machen?
Jetzt muss er selbst ganz heimlich lachen,
er tippt sich leicht ans eig`ne Kinn
und ändert deutlich seinen Sinn:
 
Was soll ich aufs Verdienstkreuz warten
und andre Orden aller Sorten?
Erhebung in den Adelsstand,
Pour-le-Merite am Hosenband?
 
Ich schwöre, dass ich meinen Rücken
nur vor Kartoffeln werde bücken,
null Obertan gönn` ich die Lust
zu dekorieren mir die Brust.
 
Da hört im Innern er mit Staunen
ein Flüstern, Murmeln, Wispern, Raunen:
Es dringt ganz deutlich an sein Ohr
vom Erdreich unter ihm hervor.
 
Und nach und nach erkennt er Worte
an diesem ganz verwunsch`nen Orte:
„Wir wollen, dass ab dieser Frist
du unser rechter König bist!“
 
Die Erdäpfel zu seinen Füßen
woll`n  ihn als ihren Herrn begrüßen.
Dem Menschen wird das plötzlich klar
und findet es ganz wunderbar.
 
„Ich übernehme diese Würde
und trage gerne Kron`  und Bürde,
mein Leben sei für alle Zeit
Kartoffelwohlfahrt nun geweiht!“
 
Er spürt, wie unter Erd` und Schollen
ein Kraftstrom ausgeht von den Knollen
und er, gewählt, ab dieser Frist
mit Recht Kartoffelkönig ist.
 
Ein andrer Mensch muss klar erkennen:
hier geht es nicht um Selbsternennen.
Was für den König einzig zählt:
Kartoffelvolk hat ihn gewählt.

„Ja!“ rief der Kartoffelkönig, als er gelesen hatte, „ich habe immer gewusst, mein königliches Mandat war keine selbstherrliche Selbsternennung, es war die Proklamation eines demokratischen Wahlergebnisses. Allein diese Erkenntnis war die Reise wert, selbst mit dem Umweg über Goethe!“