Anmerkungen zur Ästhetik der Kartoffel
War es Zufall? War es eine historische Notwendigkeit? Ich neige dazu, es nicht als Zufall zu begreifen, dass gerade in dem Moment, als das Wort Ästhetik entstanden ist und in die Philosophie Eingang gefunden hat, im gleichen Kulturraum die Kartoffel ihren Einzug gehalten hat.
Der Philosoph Alexander Gottlieb Baumgarten verfasste zwischen 1750 und 1757 ein Buch mit dem Titel „Aesthetica“ – „Ästhetik“, und so, wie sich die Kartoffel in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Töpfe erobert hat, eroberte sich in dieser Zeit die neue philosophische Richtung die Köpfe, so dass Jean Paul 1804 bemerken konnte: „Von nichts wimmelt unsre Zeit so sehr als von Ästhetikern.“
Es ist schwer zu verstehen, weshalb bis heute die Wissenschaftsgeschichte die Frage nach dem Zusammenhang der Ästhetik mit der Kartoffel so völlig außer Acht gelassen hat.
Baumgarten verstand unter Ästhetik eine Theorie der sinnlichen Erkenntnis. Gegen den sich ausbreitenden Rationalismus, der wahre Erkenntnis ausschließlich auf das Denken gründete, setzte Baumgarten die Meinung, dass wir auch unmittelbar durch die Sinne etwas Wahres über die Welt und uns selbst erfahren können. Wer sich daran erinnert, was sich uns schon als Kindern offenbarte, wenn wir mit einem Stöckchen eine schwarz-kohlige Knolle aus dem Kartoffelfeuer scharrten, sie nach kurzem Kühlen aufbrachen und den duftenden Dampf, der aus dem gelblichen Innern aufstieg, genossen und dann den mürben Kern anbissen, kann Baumgarten sicher zustimmen – unanfechtbare Erkenntnis aus rein sinnlicher Erfahrung: Es geht nichts über eine Bratkartoffel aus der Asche.
Doch Baumgartens Ästhetik-Begriff wurde schon bald verkürzt zu einer Theorie des Schönen oder einer Theorie der Kunst; vielleicht hat es damit zu tun, dass der Zusammenhang zwischen der Ästhetik und der Kartoffel lange nicht bemerkt wurde. Doch heute, wo wir uns wieder zurückbesinnen auf die ursprüngliche Bedeutung der Ästhetik, ist es auch an der Zeit, das ästhetische Wesen der Kartoffel zu durchleuchten, angemessen zur Geltung zu bringen und womöglich Aufschlüsse zu erhalten über einen bemerkenswerten Punkt der Wissenschaftsgeschichte.
Als Theorie der Sinnenerkenntnis ist die Ästhetik Anwalt aller Sinne. Wenn wir uns unter dieser Prämisse der Kartoffel annehmen, sie sozusagen zum ästhetischen Objekt machen, führen wir sie einem Bewertungsprinzip zu, das in unserem alltäglichen Leben oft zu kurz kommt. Nicht ihr pragmatischer Nutzen – dass sie sättigt und gesund ist -, steht im Vordergrund der Beurteilung; auch nicht theoretische Aspekte wie ihre Zugehörigkeit zu den Solanaceen, oder die alte Erkenntnis, dass ihre Dicke im umgekehrten Verhältnis steht zum Intelligenzquotienten des Erzeugers; es steht auch nicht im Vordergrund ihr Symbolgehalt als erdverbundenes Brot der Armen. In ästhetischer Einstellung geht es uns in erster Linie um die Kartoffel als sinnliches Phänomen, als Auslöser von sinnenvermittelter seelischer Bewegung in der Spanne zwischen Wohlgefallen und Abscheu, zwischen Genuss und Ekel und in ihrem Auslöserreiz für kreative gestalterische Prozesse. Ihr ästhetisches Angebot ist unerschöpflich. Das beginnt schon beim Namen: Ihre schriftsprachliche und ihre mundartliche Bezeichnung – Kartoffel, Grumbier – enthält alle Vokale und zwar so, dass in „Kartoffel“ das ästhetische Formprinzip der Ausgewogenheit und des sanften Übergangs in der Vokalkombination a,o,e, bei „Grumbier“ in der Verbindung des dunkelsten mit dem hellsten Vokal das Gestaltungsprinzip des Kontrastes zum Ausdruck gebracht wird. Wer nun glaubt, dem Ohr habe die Kartoffel außer Sprachklang nicht viel zu bieten, der sei nur erinnert an das weiche, dunkle Trommeln beim Leeren von Kartoffelkörben oder –säcken, an den Aufschrei der Kartoffelwürfel, wenn sie zum Braten in die heiße gefettete Pfanne gegeben werden.
Auch dem Tastsinn bietet unser Gegenstand ein reiches Erfahrungsspektrum: Zwischen der festen frischen Knolle und der runzlig schrumpfenden alten findet sich eine Fülle von Druck- und Tastqualitäten. Der Umgang im Prozess der Verwertung erregt über den Hautsinn die unterschiedlichsten Gefühle. Das Zusammenlesen bei der Ernte – ich setze die traditionelle Methode voraus – betont die negative Seite der Empfindungen – die auf Hand und Fingern trocknenden Erdreste, das Ziehen und Spannen in Rücken- und Beinmuskulatur, die in den Schuh rieselnden Erdkrumen. Dies tritt in eine eigentümliche Spannung zum Erlebnis des sich füllenden Korbs, dem Behagen am reichen Ertrag, ein Wechselprozess der Gefühle, der seine letzte Steigerung und seine Vollendung erfährt im Abtragen der Ernte vom Feld. In der Musik, in der Verarbeitung von Haupt- und Gegenthema einer Sonate, im Wechsel von Dissonanz und Harmonie stellt niemand einen solchen Vorgang als ästhetisches Geschehen in Frage, im Reich der Kartoffel muss dafür noch das Sensorium entwickelt werden.
Auch im weiteren Verlauf des Verwertungsprozesses ist die taktile Affektion in immer neuer Weise betroffen: trocken und feucht, glitschig und rau, gerundet und kantig, schwer und leicht sind Qualitäten, die in immer neuen Kombinationen und Abfolgen ästhetisch beurteilt werden können.
Wie ist es mit den anderen Sinnen bestellt? Kommt etwa die Nase zu kurz? Freilich konstatieren wir den starken Reiz auf der negativen Achse: der scharf widerliche Geruch der faulenden Knolle eröffnet das Spektrum abstoßender Assoziationen. Auch Angebranntes schmeichelt wenig dem Organ. Der olfaktorische Reiz im positiven Spektrum scheint erst einmal unbedeutend, doch bei näherem Hinriechen entdecken wir eine reiche Welt im Kleinen; die frisch geschälte Kartoffel duftet eher verhalten, etwas dumpf, doch voller Erwartungen. Und diese erfüllen sich beim Kochen, Dämpfen und Braten und in der Kombination mit Kräutern und Gewürzen – wie entfaltet sich der Duft mit fein gewiegter Petersilie im aufsteigenden Dampf frisch angerichteter Salzwasserkartoffeln! Was duftete früher mehr nach Herbst als der von ferne herangewehte Rauch der Kartoffelfeuer – leider heute eine Erinnerung an die „verlorene Zeit“.
Ein umfassenderes Wahrnehmungsspektrum bietet die Kartoffel dem Auge. Die Blüte, weiß oder mit zartem Violett überhaucht und dem tief gelben Staubkegel – bis ins 18. Jahrhundert war sie würdig eines Anbaus in fürstlichen Ziergärten. Modernen Augen, von bombastischen Blütenzuchtformen holländischer Provenienz verwöhnt, ist sie unscheinbar geworden.
Die Knollen – welch ein Reichtum an Formen und Farben! Schon die Vielfalt bei der Grundgestalt der Sorten und deren Farben erstaunt: Da ist die rundlich rote Berlichingen, die eiförmig rotschalige Reichskanzler, die tiefblaue oval-kugelige Sharon Blue, das croissantförmige ockergelbe Bamberger Hörnchen, die lang-ovale gelbe Luna oder die hautfarbene, makellos glatte Satina. Und dann die unendliche Formenvielfalt der individuellen Varianten! Wer einmal mit eigener Hand Kartoffeln geerntet hat und einen Sinn für Formen besitzt, lässt sich immer wieder aufhalten in der Arbeit durch die Betrachtung dessen, was ihm durch die Finger geht: stämmige Hutzelmänner, siamesische Zwillinge, üppige Leiber mit eingeschnürter Taille, wulstige Gnome, trübsinnige Kopfhänger – ein Skulpturenmuseum, das in den Keller wandert.
Zum letzten der Sinne kann ich mir eigentlich viele Worte sparen, da unsre Ahnungen und Vermutungen, unser Wissen und unsre Erwartungen bei vielen Mahlzeiten Bestätigung, Bereicherung, Variation und Korrektur unmittelbar erfahren konnten. Nur ein Gedanke soll noch angesprochen werden, der das ästhetische Wesen der Kartoffel aus einem anderen Blickwinkel beleuchtet.
Die Ästhetik unterscheidet eine rezeptive ästhetische Verhaltensweise, bei der wir wahrnehmend, genießend und innerlich verarbeitend dem ästhetischen Objekt gegenübertreten, von einer produktiven, bei der wir ästhetisch gestaltend auf die Dinge einwirken. Diese zweite Variante ist gerade in Bezug auf den Geschmackssinn besonders aufgerufen bei der ästhetischen Auseinandersetzung mit der Kartoffel, ja, sie wird gleichsam von der Kartoffel provoziert. Da erst ihre Herausführung aus dem rohen Zustand, die geschmacklichen Möglichkeiten entfaltet, setzt hier die ästhetische Produktivität an, um mittels aller Medien der Garung – selbst mit heißer Luft – den Urstoff zum Geschmackskunstwerk zu verwandeln. Dabei wirkt eine besondere Eigenschaft der Kartoffel förderlich, ihre geschmackliche Unaufdringlichkeit, gleichsam ihre gustatorische Neutralität. Sie fordert geradezu das Experiment mit dem Additum, und so wird sie mit Essig und Öl, mit Pfeffer und Salz, mit Milch und Mehl, mit Butter und Schmalz, mit Kümmel und Käse, Sahne und Ei und vielen anderen Dingen verbunden und zu den erstaunlichsten Kreationen der Gaumenkunst gestaltet. Dabei ist diese Kunst nie elitär, sie bleibt sozial, jedem verfügbar.
Doch der kreativ-ästhetische Bezug zur Kartoffel ist hier noch nicht zu Ende. Es ist eigentlich verwunderlich, dass in konsequenter Entwicklung moderner Kunstrichtungen eine Sparte „Kartoffelkunst“ sich bisher nur sparsam etabliert hat, denn welch anderes Material kommt dem bildenden Künstler in vergleichbarer Weise entgegen? Der Künstler muss dem der Kartoffel innewohnenden Gestaltungswillen und ihrer immanenten Formkraft nur freien Lauf lassen.
Ich schlage noch einmal den Bogen zum Anfang zurück. Ausgegangen sind wir von der Frage, ob es nur Zufall war, dass die Entstehung der modernen Ästhetik mit der Verbreitung der Kartoffel in Deutschland einherging. Es wäre vielleicht zu gewagt und würde die gebotene wissenschaftliche Redlichkeit verletzen, wenn man behauptet, dass Alexander Gottlieb Baumgarten erst über die Kartoffel zur Ästhetik gefunden habe, ihm in der betrachtenden und genießenden Beschäftigung mit ihr bewusst wurde, dass nur eine moderne Ästhetik dem reichen ästhetischen Angebot des Erdapfels, der Grumbier, gerecht werden könnte. Ich lasse es beim Gedankenspiel und verweise darauf, dass es letztlich die gleiche Natur – natura naturans – ist, die sowohl Kartoffeln als auch Philosophen hervorbringt.