Der Kloß als Symbol der Einheit von Sinnlichkeit und Vernunft
Der Kloß als Symbol der Einheit von Sinnlichkeit und Vernunft
In der Geschichte der abendländischen Kultur waren es immer wieder polare Begriffe, durch die sich die großen Denker herausgefordert fühlten. Schon mehr als 500 Jahre vor Christus stehen die griechischen Philosophen Parmenides und Heraklit für das polare Prinzip von Sein und Werden. Parmenides ist der Überzeugung, alles Werden, alle Vorgänge dienen lediglich der Erreichung eines festen Zustandes, einer endgültigen Seinsverfassung; Heraklit meint dagegen „Panta rhei“, alles ist im Fließen, das eigentliche Weltprinzip ist das Werden.
In Platons Denken geht es wenig später um das Wesen von erfahrbarer, greifbarer Realität einerseits und der Welt der Ideen andererseits, verbunden mit der Frage, was von beiden das Ursprüngliche sei. Das christliche Denken ist durchdrungen von der Spannung zwischen Materie und Geist.
Erst für die Philosophen der Aufklärung im 18. Jahrhundert, also genau in der Epoche, in der die Kartoffel in Europa ihren segensreichen Siegeszug beginnt, wird das polare Verhältnis von Sinnlichkeit und Vernunft zum Gegenstand vertiefter Reflexion. Renée Descartes hatte noch behauptet „Cogito ergo sum, Ich denke, also bin ich“; das vernünftige Denken gibt mir Selbstgewissheit, die Sinne dagegen liefern Trugbilder und Sinnestäuschungen, Sinnlichkeit schafft trügerische Affekte. Diese Pole werden in der Regel als unversöhnliche Gegensätze gesehen, zwischen die der Mensch eingespannt und zur Entscheidung aufgerufen ist: Entweder das Gute oder das Böse, entweder die Idee oder die erlebte Realität, entweder Vernunft oder Gefühl.
Es gab aber auch Versuche, die Polarität produktiv aufzulösen, wie beispielsweise in Hegels dialektischem Verfahren, indem These und Antithese zur höheren Synthese gebracht werden sollen.
Ein anderes bemerkenswertes Beispiel bildet Friedrich Schillers Schrift „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass bei diesem Unternehmen auch die Kraft der Kartoffel mit im Spiel war. Für den ewig kränkelnden Schiller waren Kartoffeln mit Salz ein regelmäßiger Bestandteil seiner Diät. Wir wissen auch, dass er bei seinem Gartenhaus in Jena, wie er selbst überlieferte, Spargel, Mangold und Kartoffeln angebaut hat. Als er sich nach seiner Flucht aus Stuttgart auf Gut Beuerbach bei Meiningen aufhielt, ist er ohne Zweifel in dem landwirtschaftlichen Betrieb mit der Kartoffel in Berührung gekommen; er hat ihr in dem Schauspiel „Kabale und Liebe“, das er dort verfasst hat, ein literarisches Denkmal gesetzt, indem er den Vater der Heldin, den alten Miller, sagen lässt: „Geld macht den Mann nicht. Ich habe Kartoffeln gegessen oder ein wildes Huhn: satt ist satt!“ Also: Es geht auch ohne Geld, wenn du Kartoffeln hast und sie zu schätzen weißt. Für unsere potatonischen Studien ist der große Dichter also kein schlechter Gewährsmann.
In seiner „Ästhetischen Erziehung“ geht Schiller davon aus, dass der Mensch von zwei Grundkräften geleitet wird, die er Stofftrieb und Formtrieb nennt. Stofftrieb kennzeichnet alles Naturhafte, Gefühlsbezogene, Formtrieb alles Ordnende, Berechnende, Vernünftige. Schiller stellt fest: Leben wir nur aus dem Stofftrieb, bleiben wir tiernahe, primitive Wilde, beherrscht uns dagegen der Formtrieb, werden wir zu Gesetzesbarbaren. Nur wenn es gelingt, Stofftrieb und Formtrieb in eine möglichst harmonische Verbindung zu bringen, werden wir unserer menschlichen Bestimmung gerecht. Die Energie, die das bewirken kann, nennt Schiller Spieltrieb; nur im Spieltrieb entgehen wir der primitiven Unkultur oder der Barbarei des Kalküls und der Gesetze.
Gestärkt durch diese philosophische Wegzehrung wenden wir uns nun Kartoffel und Kloß zu.
Die Kartoffel können wir drehen und wenden wie wir wollen – sie bleibt eingebunden in das Reich der Natur. Schon ihre Vielgestaltigkeit ist Ausdruck elementarer Naturkraft; bis zu skurrilen Fantasieprodukten treibt es die natürliche, aber auch chaotische Kreativität.
Begleiter solcher Erscheinungen sind Sinnlichkeit und Gefühl; in Schillers Sprache: Der Stofftrieb beherrscht das Kartoffelfeld.
Der Geschmack der Kartoffel ist neutral und offen, weder ausgesprochen süß, noch sauer, weder bitter noch salzig. Auch wenn der Formtrieb auf den Plan tritt und sich gestaltend der Kartoffel annimmt, Kartoffelbrei bleibt eine wohlschmeckende aber amorphe Masse, Bratkartoffeln ein zwar würziges, aber diffuses Gemenge, in jedem Fall näher am Bauch als am Kopf; der Stofftrieb behält die Oberhand. Wenn jedoch die Kartoffel in den Kloß überführt wird, tritt der erlösende Spieltrieb auf den Plan.
Die Form des Kloßes, die Kugel, ist als geometrische Idee Inbegriff des Formtriebs, Gestalt gewordene Rationalität, Zeugnis der Vernunft. Sie ist der Körper mit dem günstigsten Verhältnis von Oberfläche zu Inhalt, sie besitzt keine Ecken und Kanten. Zugleich aber verfügt sie über einen Drang zum Spieltrieb; in vielen Varianten – als Ball, als Murmel, als Billard- oder Kegelkugel, beim Roulette – hat sie Eingang in die Spielwelt der Menschen gefunden.
Aber erst im Kartoffelkloß gelingt die eigentliche Manifestation des Spieltriebs: Die starre Form des geometrischen Körpers wird gebrochen durch die weiche, elastische Konsistenz der Masse, die kalte Glätte der Oberfläche erhält eine zarte Struktur aus sanft gewölbten Kartoffelpartikeln. Eingeschrieben in diese Gestalt ist ein Spiel aus Zutaten und Gewürzen, ein Spiel mit regionalen und individuellen Geschmacksvarianten, ein Spiel mit gaumenkitzelnden Füllungen. Welche Gefühlsdimensionen dadurch initiiert werden, brauche ich Kartoffelfreunden nicht aufzuzählen.
In dieser Weise wird der Kloß zum unübertroffenen Symbol für die Einheit von Vernunft und Gefühl, für viele mehr erahnt als gewusst. Nur so erklärt sich seine Beliebtheit, seine in manchen Regionen kultische Verehrung. Nur so wird verständlich, warum die Menschen immer wieder die nicht geringe Mühe auf sich nehmen, die Kartoffel, den Naturstoff, so zu bearbeiten, dass sie in Gestalt des Kloßes dem Reich der Kunst, man kann auch sagen dem Areal des Schiller`schen Spieltriebes zugeführt wird. Dabei geht nichts verloren vom Wesen der geometrischen Form und ebenso wenig von der Kraft der Natur. Damit hebt sich der Kloß klar über das Niveau einer kulinarischen Kugel, er wird zum anschaulichen Modell einer schwierigen philosophischen Reflexion, zum Symbol des Weges, auf dem der Mensch seine Bestimmung finden kann: Sinnlichkeit und Ratio aus polarem Gegensatz zur fruchtbaren Synthese zu bringen.