Das Wahlgeheimnis

Das Wahlgeheimnis

Um achtzehn Uhr hatten die Wahllokale geschlossen, nun wurden die Stimmen zur Landtagswahl gezählt. In dem kleinen Ort mit einem einzigen Wahlbezirk war das keine zeitaufwändige Angelegenheit und ging auch diesmal wieder zügig vonstatten, bis ein Wahlzettel aufgefaltet wurde mit einer besonderen Markierung. Der Wähler hatte den wohlgeformten nackten Hinterteil einer jungen Frau aus einer Cremewerbung ausgeschnitten und auf die Liste der zu wählenden Parteien geklebt. Man hatte schnell befunden, dass diese Stimme ungültig sei, dann gab es noch einige Bemerkungen, und es wurde wieder konzentriert weitergezählt.

Als ein Jahr später, bei den Wahlen zum Orts- und Gemeinderat, wieder ein rosiger Damenhintern erschien, dauerte die dadurch ausgelöste Unterbrechung der Zählung und die Diskussion über den möglichen Urheber deutlich länger. In dem kleinen Dorf kannte jeder jeden und die Zahl derer, denen man den Scherz zutraute, war nicht sehr groß; man vermutete jemand aus einer Handvoll älterer Herren, bei denen politische Skepsis und Schalkhaftigkeit zusammentrafen.

Auch bei den nächsten Wahlen gab es beim Stimmenzählen die erotische Einlage, doch die Zahl der Verdächtigen schrumpfte von Wahl zu Wahl. Einer hatte mit Briefwahl gewählt, und alle Briefwahlzettel waren gültig; ein anderer war verreist und der Wahl ferngeblieben. Anspielungen am Stammtisch, Aushorchen der Ehefrau, spitzfindiges Kombinieren – nichts brachte Licht ins Dunkel. Irgendwann meinte einer der Wahlhelfer: „Auf unserer Liste befinden sich nun noch zwei, wenn einer stirbt, ist das Geheimnis gelüftet.“

In der Tat – bei der nächsten Wahl gab es keinen Stimmzettel mit dem Cremepopo, doch das Wahlgeheimnis blieb gewahrt, beide Kandidaten waren gestorben.