Rotkäppchen im Kartoffelland
Den Brüdern Grimm kommt das große Verdienst zu, volkstümliches Kulturgut gesammelt und in den Kinder- und Hausmärchen für die Nachwelt erhalten zu haben. Es konnte nicht ausbleiben, dass die mündlich überlieferten Texte für die schriftliche Fixierung und den Druck einer literarischen und redaktionellen Bearbeitung unterzogen wurden. Dass sich dabei zuweilen deutliche Sinnverschiebungen ergeben haben, wird an dem berühmten Märchen „Rotkäppchen“ deutlich. Neueste Forschungen konnten in jüngster Zeit Unterlagen zu Tage fördern, die es notwendig erscheinen lassen, „Rotkäppchen“ aus dem Genre der Märchen auszugliedern und einer anderen literarischen Gattung zuzuordnen.
Es war während der Herrschaft von Potatillus dem Keimlosen, also lange vor der Herrschaft seiner kartoffelköniglichen Majestät Eduards I., dass das Kartoffelland einer großen Bedrohung anheimfiel. Ein mächtiger Wolf war über die sonst so sicheren Grenzen in das sonst so friedliche Reich eingedrungen. Nun wäre ein Wolf prinzipiell kein all zu großes Problem, solange er sich von schwachem und krankem Wild ernährt, aber es traten im Kartoffelland schon bald Hirten auf den Plan, die angaben, es fehle ein Schaf oder eine Ziege aus ihrer Herde und außer einer Entschädigung das konsequente Einschreiten des Staates verlangten. Der Medienrummel war vergleichbar mit dem um den Braunbären Bruno, der kürzlich die bayerischen Alpen besuchte. Die schwarze Presse forderte, die kartoffelländische Armee solle sich nicht nur um den Frieden in fernen Regionen kümmern, sondern den Wolf im eigenen Land bekämpfen. Die grüne Presse bedauerte den Wolf, der sicher unter großer Einsamkeit zu leiden hätte und regte an, sofort noch eine Wölfin ins Land zu holen. Die rote Presse hatte die großartige Idee, die größte Gewerkschaft solle den Wolf einfangen und bei Kundgebungen und Demonstrationen als Maskottchen und Symbol ihrer Kampfbereitschaft mitführen. Als dann aber in einem verbreiteten Boulevardblatt die dicke Balkenüberschrift zu lesen war „Wolf mag Mädchen“ und der kurze zugehörige Artikel ausführte, dass man im Nachbarland das verschwinden einer süßen Maid mit einem Wolf in Verbindung brachte, entstand für die Regierung im Kartoffelland Handlungsbedarf.
Der Kartoffelkönig berief eine Kabinettsitzung ein. Um die Angelegenheit nicht zu dramatisieren, beschloss diese erst einmal nur einen Appell. Da man die Mädchen im Kartoffelland für emanzipiert und gebildet hielt, forderte man sie auf, allem, was nach Wolf roch oder nach Wolf aussah, aus dem Weg zu gehen.
Als dann die Botschaft kam, dieser Wolf sei ein Verstellungskünstler und Meister im PR-Geschäft und man eine gewisse Verführbarkeit beim weiblichen Geschlecht immer noch nicht ausschließen konnte, wurde die zweite Stufe der Maßnahmen aktiviert: Jäger sollten dem Wolf eine Betäubungsladung auf den Pelz brennen, dann sollte er im betäubten Zustand außer Landes geschafft werden. Doch als selbst Jäger, die perfekt Latein sprachen, nach einer Woche keinen Wolf vor das Rohr bekommen hatten, dafür aber wieder Entschädigungsanträge für abhanden gekommene Schafe eintrafen, wurde die dritte – eine diplomatische – Stufe ausgelöst: Durch ein persönliches Schreiben des Kartoffelkönigs, das im Wald an jeder zehnten gesunden Eiche und an jeder fünfzehnten kranken Buche angeschlagen werden sollte, wurde dem Wolf ein hohes Staatsamt mit Pensionsanspruch und täglich ein von einem Drei-Sterne-Koch zubereitetes Kartoffelgericht angeboten, wenn er dafür auf fleischliche Kost in Form von Paarhufern und kartoffelländischen Jungmädels verzichtete. Nachdem auch dieses großzügige Angebot der Regierung von Seiten des Wolfs ohne Reaktion geblieben war, entschloss sich Potatillus der Keimlose, den geheimen Kartoffelrat am runden Tisch einzuberufen. Da dieses Gremium nur in Zeiten großer Staatskrisen zusammentrat, unterlag die Konferenz einem besonderen Zeremoniell. Erst wurden ihre Mitglieder gemessenen Schritts durch eine Küche geführt, in der drei Hofköche edelste Bratkartoffeln zubereiteten. An der Tür zum geheimen Kabinett hing unübersehbar eine Speisekarte mit dem herrlichsten Kartoffelmenu, das man sich vorstellen kann. Mit einem Kopfnicken bestätigte jedes Ratsmitglied, dass es die Karte gelesen hatte, dann erst konnte die Klausur betreten werden. Niemand durfte den Raum verlassen, bevor ein Beschluss gefasst war. Hatte der Kartoffelkönig die Entscheidung des geheimen Kartoffelrats entgegengenommen, wurde das vorbereitete Menu serviert. Es heißt, dass auf diese Weise auch die schwierigsten Entscheidungen in kurzer Zeit gefällt worden seien. Da diesmal die Bratkartoffeln besonders gut geduftet hatten und die Speisekarte überaus appetitlich komponiert war, kam die Entscheidung in Sachen Wolf schnell zustande. Sie lautete folgendermaßen: Da der Wolf klug und gefährlich zu sein scheint, kann er nur mit List überwunden werden; seine besonderen Gelüste sollen ihm zum Verhängnis werden.
Als Lockvogel wird ein attraktiver Teenager gesucht mit einer Großmutter, die möglichst im Wald wohnen sollte. Das Mädchen wird sich an einem bestimmten Tag mit einem Körbchen voller Wolfsköder auf den Weg machen in den Wald zur Großmutter. Die Leibjäger des Kartoffelkönigs werden in sicherem Abstand, mit Kartoffelkraut getarnt, Posten beziehen. Damit das Mädchen sicher erkannt wird und nicht zu Fehlschüssen Anlass gibt, trägt es eine leuchtend rote Kappe. Lässt sich der Wolf anlocken und bietet sich die Gelegenheit, ist er zum Abschuss freigegeben. Um die Aktion für Bewerberinnen attraktiv zu machen, wird der Sohn des Kartoffelkönigs das Mädchen mit der roten Kappe nach gelungener Aktion zur Frau nehmen.
Nach diesem Beschluss des geheimen Kartoffelrates wurde dann auch verfahren.
Was sich darauf in Wirklichkeit zugetragen hat, dass es Komplikationen gegeben hat, weil der gierige Wolf selbst eine alte Großmutter nicht verschmähte, kann man bei den Brüdern Grimm nachlesen. Warum diese aber das Happyend mit der Einheirat einer Bürgerlichen in den höchsten Kartoffeladel nicht überliefert haben, wird sicher ein Gegenstand zukünftiger Märchenforschung werden.